BERLINALE WETTBEWERB: BOYHOOD

Hm, stürzen wir uns doch einfach mal in wilde Spekulationen. In diesem Jahr ist der Jurypräsident ein Produzent (James Schamus nämlich). Und Produzenten müssen halbwegs auf Publikumsverträglichkeit achten, oder? Ob Boyhood also auch als nicht deprimierender Film eine Chance auf einen Preis der Berlinale hat? Es ist ihm zu wünschen, finde ich. Und das sag ich nicht nur aus euphorischem Überschwang, weil es mir unglaublicherweise gelungen ist, Karten für die Premiere des neuen Films von Richard Linklater zu ergattern.

© Berlinale

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Boyhood ist ein Coming of Age-Film, der die Geschichte des kleinen Jungen Mason (Ellar Coltrane) von seinem sechsten Lebensjahr bis zum Beginn seiner College-Zeit nachzeichnet. So passieren denn in seinem Leben auch allerhand Dinge, die in dieser Lebensphase eben viele junge Menschen ereilen: Stress mit den Eltern, neue Freunde der Mutter, Umzüge und Schulwechsel, Ärger mit Mädchen. Das Ganze wurde aber nicht etwa mit verschiedenen Schauspielern unterschiedlichen Alters oder unter exzessivem Einsatz der Maske gedreht. Vielmehr arbeitet Regisseur Richard Linklater schon seit 2002 an diesem Film. Auch in seiner Midnight-Trilogie hatte er alle zehn Jahre mit den gleichen Darstellern eine Geschichte weitergesponnen. Hier traf er sich jedes Jahr aufs Neue mit Ellar Coltrane, Ethan Hawke, Patricia Arquette und Lorelai Linklater, um in regelmäßigen Abständen ein neues Filmschnipselchen abzudrehen. Die Figuren werden größer, erwachsener, dicker, ändern ihre Frisuren und Einstellungen – und wir sind dabei.

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Herausgekommen ist dabei nicht nur die Geschichte vom Erwachsenwerden eines Jungen, sondern auch eine Art Chronologie eines kollektiven Gefühls am Anfang des 21. Jahrhunderts. Da die Szenen jeweils in dem Jahr gedreht wurden, in dem sie auch spielen, entsteht ein fast unheimlich authentisches Bild unserer Zeit. Richard Linklater triggert dieses Gefühl geschickt durch Musik, die wir alle in den vergangenen Jahren im Radio rauf und runter gehört haben. Ob Masons Schwester Sam (Lorelai Linklater) als kleines Mädchen „Oops… I did it again“ performt oder Jahre später zum Konzert von Lady Gaga gehen will – all diese Situationen kommen uns seltsam vertraut vor. Aber auch über die Musik hinaus ist Boyhood eine Sammlung kollektiver Erinnerungen. Richard Linklater macht am Rande die Finanzkrise zum Thema oder lässt seine Figuren beim Wahlkampf für Obama helfen, er lässt sie verkleidet den neusten Harry Potter-Band kaufen oder über die nächsten Star Wars-Episoden fachsimpeln. Sogar die NSA kriegt beiläufig ihr Fett weg, was im Saal prompt zu Zwischenapplaus führte. Dabei gelingt es ihm immer wieder, stilistische wie inhaltliche Klischees aufzugreifen und mit viel Witz und kluger Beobachtungsgabe in etwas neu Funktionierendes zu verwandeln. Da treffen die Wahlkampfhelfer auf waffenvernarrte Republikaner oder auf eine in Obama verknallte Demokratin und zu seinem Geburtstag erhält Mason von den texanischen Eltern seiner neuen Stiefmutter eine Bibel.

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Während ich diese Kritik schreibe, erhält Richard Linklater auf der Berlinale den Silbernen Bären für die Beste Regie. Für den Goldenen Bären hat es zwar leider nicht gereicht, der Preis für den Regisseur ist aber durchaus berechtigt, denn schließlich schaffte er es nicht nur, seine Darsteller über zwölf Jahre bei der Stange zu halten, sondern auch uns Zuschauer über stolze 164 Minuten Laufzeit. Und zwar das Ganze ohne unnötige Dramatik. Wir sehen Mason, seinen Geschwistern, Eltern und neuen Familienanhängseln im Alltag zu, nicht bei dramatischen Großereignissen. Selbst Geschehnisse, die für die Figuren eine herausragende Bedeutung haben oder das Potential für viel Hysterie in sich tragen, werden mit einer angenehmen Ruhe abgehandelt. Und manchmal bringt genau das dann die Spannung mit sich. Wenn der betrunkene Freund von Masons Mutter die versammelte Familie am Esstisch zur Schnecke macht, dann ist es viel eher beklommenes Schweigen, das beim Zuschauer den Horror auslöst, als übertriebenes Geschrei.

In Sachen Drehbuch und Schauspielerei greift in Boyhood ein ganz ähnliches Prinzip wie schon bei den historischen Referenzen. Die Figuren erleben Situationen, die wir, wenn wir sie nicht selbst durchgemacht haben, so doch immerhin aus unserem kulturellen Gedächtnis abrufen können. Einen kleinen Jungen, der begeistert Unterwäschekataloge durchblättert, Kabbeleien unter Geschwistern oder der Kontrast zwischen verantwortungsbewusster alleinerziehender Mutter und unbekümmertem Vater – wir haben so etwas schon hunderte Male gesehen – und sehen es hier nur allzu gern noch einmal, weil es bei all seiner Authentizität trotzdem noch frische Perspektiven liefert, bei aller Vertrautheit immer wieder herzhaftes Lachen den Kinosaal erfüllt. Wenn es also schon mit dem Goldenen Bären nicht geklappt hat, dann hoffe ich wenigstens, dass Boyhood schnell einen deutschen Kinostart bekommt. Dann werde ich diesen wunderbaren Film sicher noch einmal sehen.

Boyhood auf der offiziellen Berlinale-Website

3 Antworten zu “BERLINALE WETTBEWERB: BOYHOOD

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